Hesychasmus und Palamismus: Formen östlicher Mystik

Hesychasmus und Palamismus: Formen östlicher Mystik
Hesychasmus und Palamismus: Formen östlicher Mystik
 
Der moderne Begriff Hesychasmus ist abgeleitet von den griechischen Wörtern »hēsychía« (= Ruhe) beziehungsweise »hēsycházein« (= sich im Zustand der äußeren oder inneren Ruhe befinden). »Hēsychía« bezeichnet schon in frühbyzantinischer Zeit das Konzept des Mönchs, insbesondere des Einsiedlers, sich durch Ausschaltung aller äußeren Sinneswahrnehmungen und aller Affekte in einen Zustand kontemplativer Ruhe zu versetzen und so Zugang zu Gott zu erhalten.
 
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstand unter den Mönchen auf der Athos-Halbinsel eine mächtige Bewegung, die den Zugang zu Gott, die »Theosis« (griechisch = Vergottung), unter anderem durch Zuhilfenahme psychosomatischer Techniken zu finden suchte. Die mystische Versenkung sollte durch absolute Ruhe erreicht werden. Bei Konzentration auf die Körpermitte, die von den Gegnern polemisch »Nabelschau« genannt wurde, und Kontrolle des Atems wurde immer wieder das Jesus-Gebet wiederholt: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner«. So vorbereitet, hatte der Mönch nach der Vorstellung der Hesychasten die Möglichkeit, der Gnade der unmittelbaren Wahrnehmung Gottes teilhaftig und errettet zu werden.
 
Im Zuge einer eigentlich auf andere Themen ausgerichteten theologischen Debatte wurde diese Praxis von Barlaam, einem orthodoxen Mönch, der aus Kalabrien nach Konstantinopel gekommen war, angegriffen. Barlaambehauptete die prinzipielle Unerreichbarkeit Gottes. Gregorios Palamas übernahm in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit einer ganzen Reihe von theologischen Traktaten die Verteidigung und theologische Grundlegung der hesychastischen Bewegung. Eine Theosis des Menschen ist nach seiner Lehre sehr wohl möglich, da man zwischen dem Wesen Gottes und seinen Energien unterscheiden müsse. Diese Energien Gottes seien zwar ebenfalls unerschaffen, aber für den Menschen durch göttliche Gnade wahrnehmbar, so wie die Jünger Jesu bei der Verklärung auf dem Berg Tabor (Lukas 9, 28-36) das Tabor-Licht wahrgenommen hätten. Es ist ein letztlich in der Philosophie Platons wurzelnder Gedanke, dem das formal-logisch vorgehende Denken Barlaams, das eher dem Aristotelismus verpflichtet ist, diametral entgegensteht. Barlaam und seine Anhänger in Byzanz, vor allem Gregorios Akindynos, wandten gegen Palamas ein, dass sein Denkkonzept der Einheit Gottes widerspreche und letztlich zur Annahme eines zweiten Gottes unter Gott führen müsse.
 
Die Kontroverse wurde nicht nur in theologischen Streitschriften, sondern auch administrativ ausgetragen. Historisch kompliziert ist die Sache dadurch, dass die theologische Auseinandersetzung personell sehr eng mit dem Bürgerkrieg von 1341 bis 1347 zwischen Johannes Kantakuzenos und seinen Anhängern einerseits und auf der anderen Seite der für den minderjährigen Kaiser Johannes V. Palaiologos agierenden Partei unter Führung des Patriarchen von Konstantinopel, Johannes Kalekas, verwoben ist. Es ist allerdings zu beachten, dass die Bruchlinie zwischen den Bürgerkriegsparteien keineswegs identisch ist mit derjenigen zwischen Palamiten und Antipalamiten.
 
Der Streit zwischen Barlaam und Palamas ist öffentlich zunächst auf einem noch von Kaiser Andronikos III. einberufenen Konzil im Juni 1341 in der Hagia Sophia zu Konstantinopel verhandelt worden, das mit einer Verurteilung der Position Barlaams endete. Dieser kehrte nach Italien zurück, doch die Kontroverse ging auch ohne ihn weiter. Da Palamas sich nicht an das auf einer weiteren Synode im Juli 1341 erlassene Verbot, sich zu dogmatischen Fragen schriftlich zu äußern, hielt, wurden er und seine Lehre auf einer folgenden Synode im November 1342 verurteilt. Palamas wurde inhaftiert, seine Anhänger wurden verfolgt. Doch das Blatt wendete sich wieder nach dem Sieg des Johannes VI. Kantakuzenos im Bürgerkrieg und seiner Krönung zum Kaiser im Mai 1346. Patriarch Kalekas wurde abgesetzt, Akindynos wurde exkommuniziert, und die Synode vom Februar 1347 (dann noch einmal bestätigt 1351) setzte die Beschlüsse von 1341 hinsichtlich der Verurteilung Barlaams wieder in Kraft. Palamas wurde 1347 zum Metropoliten von Thessalonike ernannt. Die von ihm entwickelte Theologie mit der Stärkung des Theosis-Gedankens, insbesondere seine Position, dass der Mensch durch die Gnade des Heiligen Geistes an den unerschaffenen Energien Gottes Anteil haben kann, hat das orthodoxe theologische Denken nicht nur im griechischsprachigen Raum, sondern vor allem in den slawischen Ländern bis heute entscheidend geprägt. Gregorios Palamas wird in der orthodoxen Kirche als großer Heiliger verehrt, sein Gedenktag ist der 14. November.
 
Prof. Dr. Diether R. Reinsch
 
 
Felmy, Karl Christian: Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung. Darmstadt 1990.
 
Handbuch der Ostkirchenkunde, herausgegeben von Wilhelm Nyssen u. a. Band 1 und 2. Düsseldorf 1984—89.
 Müller, C. Detlef G.: Geschichte der orientalischen Nationalkirchen. Göttingen 1981.

Universal-Lexikon. 2012.

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